1. Spielarten des Konstruktivismus
- ein Überblick
Wer immer von Konstruktivismus redet, muss sich darüber im Klaren sein, dass "der Konstruktivismus" kein einheitliches Lehrgebäude ist.
Begriffsklärung:
Unter Konstruktivismus sind eine Vielzahl von verschiedenen Strömungen zu finden. Nach dem Schwerpunkt ihrer Argumentation - und der ihr zugrunde liegenden Unterscheidung (für den Begriff des Unterscheidens vergl. Spencer-Brown) - lassen sich u.a. folgende Spielarten unterscheiden:
- der biologisch - neurowissenschaftliche Konstruktivismus mit den wichtigsten Vertretern: Maturana, Varela und Roth,
- der soziale Konstruktivismus ,
- der kybernetische Konstruktivismus, bei dem Heinz v. Foerster als Mentor der Kybernetik 2. Ordnung gelten kann,
- der philosophisch-soziologische Konstruktivismus im Sinne Luhmanns .
Diese Liste kann noch, um nur die bekanntesten Vertreter zu nennen, durch
- den logisch-mathematischen Konstruktivismus,
- den Konstruktivismus der Erlanger Schule,
- Piagets Konstruktivismus und
- Vertreter des "Radikalen Konstruktivismus" ergänzt werden.
Der Mehrheit der Konstruktivisten ist gemeinsam, dass eine »Objektive Welt« nicht erkennbar, sondern nur errechenbar, bzw. nur erfahrbar ist.
Beschreibungen der "sogenannten Realität" stellen also "Wirklichkeitsentwürfe" dar, die sich im sozialen, kulturellen, etc. Kontext bewährt haben.
Im Mittelalter wurde die Seefahrt durch die Vorstellung behindert, dass die Erde eine Scheibe sei. Diese Vorstellung genügte für die küstennahe Segelschiffahrt.
Erst der Gedanke, dass die Erde eine kugelförmige Gestalt habe, ermöglichte die Weltumsegelungen.
Wie solche Wirklichkeitsentwürfe entstehen und wie sie verändert werden, ist mit Untersuchungsgebiet der "Konstruktivisten".
Zum Nachdenken
Welche Vorstellungen besitzen wir von der Schule, die im Geheimen unsere Handlungs-spielräume in der Schule bestimmen und manchmal auch einschränken?
Zur Kritik am Radikalen Konstruktivismus vergl. R. Nüse u.a. (1991): Über die Erfindung/en des Radikalen Konstruktivismus - Kritische Gegenargumente aus psychologischer Sicht.
Die Autoren heben in der Auseinandersetzung mit verschiedenen Autoren des Radikalen Konstruktivismus hervor, dass dieses Gedankengut im Sinne des Kritischen Realismus gleichfalls dargestellt werden kann. Sie wehren sich gegen „Überziehungen des Radikalen Konstruktivismus “ und meinen, (a.a.O., S. 338f.), dass:
„... gegen die These von der Unerkennbarkeit der Welt zu argumentieren “(sei)... „Wofür wir argumentieren wollten, konnte folglich nicht im Mittelpunkt stehen, ist aber hoffentlich dennoch zumindest in Umrissen deutlich geworden. Es handelt sich um die Verbindung, besser Verbindbarkeit von (metatheoretischem) kritischem Rationalismus und (objekttheoretischem) Konstruktivismus , eine Position, die sich in Abgrenzung zum Radikalen Konstruktivismus schlagwort artig vielleicht am ehesten als »realistischer Konstruktivismus « bezeichnen lässt“.
4. Der kybernetische Konstruktivismus
Heinz v. Foerster gilt als Hauptvertreter des kybernetischen Konstruktivismus, der in vielen Veröffentlichungen die Verknüpfung von sich selbst regulierenden Maschinen (Kybernetik 2. Ordnung ) mit der Autopoiesetheorie von Maturana herstellt. Seine grundlegenden Gedanken – u.a. Beobachtertheorie, Berechnung von Eigenwerten bei iterativen Operationen, der Entstehung von »order from noise« können hier nicht ausführlich dargestellt werden.
Erkennen besteht nach v. Foerster aus einer fortlaufenden Neuberechnung: Ergebnisse treffen auf alte Berechnungen und wirken damit fortlaufend auf sie ein.
Sprachliche Äußerungen, so Foerster, sind als Resultat komplexer Prozesse immer die Repräsentation meiner errechneten Erfahrung. Sie ermöglichen es mir, meine Erfahrungen mit anderen zu vergleichen, zu identifizieren, zu klassifizieren etc. d.h., dass die Mechanismen, die es mir erlauben, Erkenntnisse in Äußerungen wiederzugeben, die Fähigkeit bestimmen, mich zu erinnern.
Es stellt sich die Frage, ob bei beobachtetem sprachlichem Verhalten, das wenig differenziert erscheint, auch die Erinnerung eingeschränkt ist oder ob sie von einem Dritten nur nicht festgestellt werden können.
Die »Erfindung der Wirklichkeit« führt aber nicht zwangsläufig zur Beliebigkeit , sondern wie er immer wieder betont, zur Verantwortung für die Erfindungen, die auch in einer Komplexitätserweiterung sichtbar werden soll.Interessant finde ich seine Annahmen im Rahmen der Konstruktivismus-debatte hinsichtlich der pädagogischen Implikationen.
Am bekanntesten ist wohl Heinz von Foersters Darstellung der Lebewesen als nicht-triviale Maschinen, die davon ausgeht, dass die Erkenntnisgewinnung von Lebewesen als systemabhängige, und damit struktur- und geschichtsabhängige, rekursive Errechnungsprozedur zu betrachten ist.
Beispiel:
Machen wir uns den Unterschiede zwischen einer trivialen Maschine und einer nicht trivialen Maschine klar:
Wenn Du Erfahrungen mit Ballspielen hast, so ist dir einigermaßen klar wohin ein Ball fliegt, wenn du gegen ihn trittst. Der Ball verhält sich voraussehbar, nach Foerster verhält er sich wie eine triviale Maschine.
Trittst du dagegen gegen einen Hund, so kann das Resultat für dich sehr überraschend se in .... Der Hund verhält sich nicht trivial.
(sinngemäß n. Gregory Bateson)Triviale Maschinen - in dieser Terminologie gesprochen - verhalten sich also vorhersehbar. Dies ist bei Autos etc. auch ganz sinnvoll: Zündschlüssel rein - gedreht - Abfahrt.
Nicht triviale Maschinen - wie unsere Schüler dagegen - verhalten sich unvorhersehbar: "Die Stunde, die in der einen Klasse so gut lief war eine Katastrophe in der Parallelklasse".
Weil Schüler nicht vorhersagbar Dinge lernen, fordert von Foerster für den pädagogischen Kontext die Abschaffung des isolierten in- und output- Modells und ersetzt es durch ein Modell des Generierens von Information im Lebewesen. Zur Praxis
Ähnlich wie Maturana baut Heinz v. Foerster auf die Erfahrungen von Menschen, die durch eine sinnstiftende Kommunikation Lernen. Die Eigenverantwortung der Schüler für ihr Lernen ist dabei sehr groß.
Eigentätigkeit und Eigenverantwortung sind mit auch Kennzeichen der Reformpädagogik, weshalb es sich rentiert, sich auch heute noch mit deren Grundsätzen zu beschäftigen.
Es stellt sich mir die Frage, in wie weit die Ablehnung der Trivialisierung - netter ausgedrückt, der Routinebildung - nicht nur ein Abgrenzung zur alten Paukschule ist.
Wie könnte der ethische Imperativ nach v. Foerster„Handle stets so, dass du die Anzahl der Möglichkeiten vergrößerst!“ deine Unterrichtspraxis ändern?
Literaturhinweise:
Foerster, Heinz von (1985): Sicht und Einsicht - Versuch zu einer operativen Erkenntnistheorie - übersetzt von Wolfram K. Köck. Braunschweig; Wiesbaden, Vieweg Verlag.
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Foerster, Heinz von (1993 b): KybernEthik. Berlin, Marve Verlag5. Systemtheorie nach N. Luhmann
Es ist unmöglich Luhmanns umfangreiches Werk in einer kurzen Darstellung zusammenzufassen, eine fehlerhafte Darstellung wird immer die Folge sein.
Luhmanns Systemtheorie beginnt mit der Beobachtung der Differenz zwischen System und Umwelt , wobei, (in Anlehnung an Spencer-Brown werden System und Umwelt als die zwei Seiten einer Form aufgefasst) der Beobachter die Grenze zwischen System (marked space ) und Umwelt (unmarked space ) zieht. Da das System im Vergleich zur Umwelt weniger komplex ist, zwingt diese das System zu dauernden Selektionen, zur Komplexitätsreduktion . Systeme, hier überträgt Luhmann die Ergebnisse Maturanas auf soziale Systeme, sind autopoietisch organisiert und damit operational geschlossen, was die Autonomie der Systeme ermöglicht. So ist beispielsweise Kommunikation für das »Soziale System« die Umwelt; nur ein geringer Teil möglicher Kommunikationsformen wird im System tatsächlich auch verwirklicht. Wenn ein Beobachter ein soziales System betrachtet, beobachtet er Kommunikation und beschreibt diese, was wiederum das soziale System beeinflusst.
»Soziales System« und »Psychisches System« mit der »Umwelt Gedanken«, sind nicht direkt miteinander verknüpft, da nach Luhmann Kommunikation an Kommunikation anschließt und nicht etwa an physiologische Prozesse. Diese getrennten selbstreferentiellen Systeme mit ihren getrennten Umwelten laufen sozusagen nebeneinander her und können von einem Beobachter so beschrieben werden, als ob sie wiederum Umwelten füreinander wären.
Verschiedene Systeme werden durch Medien gekoppelt: Sprache wäre z.B. ein Medium , das dazu fähig ist, das »Soziale System« mit dem »Psychischen System« zu koppeln. Für sprachliche Kommunikation etwa werden psychische Systeme zum Medium (nur ein kleiner Teil der Möglichkeiten der psychischen Systeme werden in der Kommunikation aktualisiert) oder das einzelne Bewusstsein kann sprachliche Kommunikation als Medium (das einzelne Bewusstsein wählt aus den, von der Sprache gebotenen Möglichkeiten aus) benutzen. Mit anderen Worten ausgedrückt: Sprache ist ein sinnstiftendes Kommunikationsmedium, das von zwei nicht überlappenden Systemen gleichzeitig benutzt werden kann und damit eine Koevolution beider Systeme ermöglicht.
Aus der dargelegten Theoriekonstruktion heraus ergibt sich, dass für das Erziehungssystem die »psychischen Systeme« zur Umwelt werden. Die erzieherische Kommunikation kann demnach nicht determinieren, was die einzelnen Schüler ( »psychischen Systeme« im Sprachgebrauch Luhmanns) aufnehmen und was sie zurückweisen. Als primäre Aufgabe des Erziehungssystems bleibt, im traditionellen Erziehungssystem, demnach nur noch übrig, die psychische Umwelt durch Abweichungsverstärkung so zu verändern, dass ihre Mitglieder (psychische Systeme) dazu in die Lage versetzt werden, an der Kommunikation der Gesellschaft teilzunehmen. Um dies zu erreichen, ist das Erziehungssystem zwar auf die Organisation von Interaktionen zwischen Lehrern und Schülern angewiesen, kann aber nie den Erfolg der Bemühungen garantieren. Verhaltensbeobachtungen und Verstärkungen der Abweichungen, bzw. Nichtabweichungen von den Lehrererwartungen und deren Bewertung sind als Mittel, da ein geeigneter Code fehlt, programmatisch Selektionsinstrumente für Berufskarrieren.
Wenn Luhmann die Interaktion zwischen Erzieher und Zögling betrachtet, wird für ihn sichtbar, wie die Differenzen zwischen den Attributionsmustern, Vorzugseinstellungen, Differenzschemata beider Systeme »invisibilisiert« werden. Paradoxe Aufträge, wie die Gleichbehandlung verschiedener Schüler, die schulleistungsbedingte Ungleichheiten erzeugt, oder die Erziehung zur Selbständigkeit , zur Mündigkeit bzw. zu selbst bestimmtem Handeln - die die selbstreferentielle Bestimmung dieser Ziele von außen zu bestimmen versucht - werden systembedingt nicht mehr diskutiert. Das erzieherische Moment, „das auf eine kaum merkliche allmähliche Bereicherung der Fähigkeiten abzuzielen (scheint), die im einzelnen nicht beobachtet werden kann und allenfalls in Überraschung zum Ausdruck kommt ...“ (Luhmann & Schorr 1996; S. 27) steht in der Gefahr durch das Prinzip der Leistungsfeststellung, der Selektion , ersetzt zu werden.
Taktvolle und paradoxe Kommunikation im pädagogischen Handeln kann helfen, den Kommunikationsrahmen zu erweitern, um die Fähigkeit zur „Selbstbeobachtung des Systems“ zu steigern. Dies ermöglicht eine Korrektur der selbsterschaffenen Wirklichkeit. Der Auftrag der Pädagogen, Personen im weitesten Sinne durch Lehren zu verändern, kann denn auch nur gelingen, wenn die subjektiven Konstruktionen und Stereotypisierungen, die reduzierenden Kausalpläne aller im Erziehungsprozess Beteiligter, mit Hilfe von Kommunikation offengelegt und unterbrochen werden. Das diagnostizierte Technologiedefizit der Pädagogik gilt es zu überwinden:
Da es keine für soziale Systeme ausreichende Kausalgesetzlichkeit, da es mit anderen Worten keine Kausalpläne der Natur gibt, gibt es auch keine objektiv richtige Technologie, die man nur erkennen und anwenden müsste. Es gibt lediglich operativ eingesetzte Komplexitätsreduktionen, verkürzte, eigentlich „falsche“ Kausalpläne, an denen die Beteiligten sich selbst in bezug auf sich selbst und in bezug auf andere Beteiligte orientieren. Das ist die einzige Basis jeder möglichen Technologie .
Zur Praxis
Dem Lehrpersonal stehen als einzige Mittel zur Veränderung kommunikative Mittel zur Verfügung. Dies bedingt auch, dass die komplexen Zusammenhänge in dem System Schule/ Klassenzimmer ,.. besonders gründlich beobachtet und analysiert werden. Nur dann, können nach Luhmann größere Erziehungserfolge gelingen.
Literaturhinweise:
Luhmann, Niklas & Schorr, Karl E. (1982): "Das Technologiedefizit der Erziehung und die Pädagogik." In: Luhmann, Niklas; Schorr Karl E. (Hrsg.)(1982): Zwischen Technologie und Selbstreferenz... Frankfurt, stw S. 11-50.
Luhmann, Niklas (1986): "Systeme verstehen Systeme." In: Luhmann, N. & Schorr,K. E. (Hrsg.) (1986): Zwischen Intransparenz und Verstehen. Fragen an die Pädagogik. Frankfurt, stw S. 72–117.
Luhmann, Niklas (1987): "Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie." 2. Auflage, Frankfurt, stw 1988.
Luhmann, Niklas (1996): "Takt und Zensur im Erziehungssystem." In: Luhmann,N. & Schorr, Karl, E. (Hrsg.)(1996): S. 279–294.