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1. Problemaufriss

Notendefinitionen der KMK

1. sehr gut (1)

Die Note "sehr gut" soll erteilt werden, wenn die Leistung den Anforderungen in besonderem Maße entspricht.

2. gut (2)

Die Note "gut" soll erteilt werden, wenn die Leistung den Anforderungen voll entspricht.

3. befriedigend (3)

Die Note "befriedigend" soll erteilt werden, wenn die Leistung im allgemeinen den Anforderungen entspricht.

4. ausreichend (4)

Die Note "ausreichend" soll erteilt werden, wenn die Leistung zwar Mängel aufweist, aber im ganzen noch den Anforderungen entspricht.

5. mangelhaft (5)

Die Note "mangelhaft" soll erteilt werden, wenn die Leistung den Anforderungen nicht entspricht, jedoch erkennen lässt, dass die notwendigen Grundkenntnisse vorhanden sind und die Mängel in absehbarer Zeit behoben werden können.

6. ungenügend (6)

Die Note "ungenügend" soll erteilt werden, wenn die Leistung den Anforderungen nicht entspricht und selbst die Grundkenntnisse so lückenhaft sind, dass die Mängel in absehbarer Zeit nicht behoben werden können.

Schon 1971 stellte Karlheinz Ingenkamp lapidar fest:

"Zensuren und Zeugnisse haben auf allen Stufen unseres Bildungssystems eine außerordentliche Bedeutung für den Lernenden und für eine Gesellschaft, in deren Auftrag ein erheblicher Teil der Zensurengebung erfolgt.

"Zensuren" und Zensurengebung" werden hier als Kurzbezeichnungen für den überlieferten und gegenwärtig immer noch praktizierten Vorgang der Feststellung und Bewertung von Schüler- und Studentenverhalten verstanden, in dem die Feststellung und Messung des Verhaltens durch mündliche oder schriftliche Prüfungen sowie Beobachtungen erfolgt, deren messmethodische Qualität nicht ausreichend bekannt ist, und bei dem in einem Meßvorgang kaum unterscheidbaren Bewertungsakt Zifferzensuren, Empfehlungen oder Gutachten vergeben werden." [Hervorhebungen H.B.]

Karlheinz Ingenkamp (5. Auflage 1971), S. 11

Frage

Zum Überprüfen:

Entsprechen die Angaben der KMK präzisen Messvorschriften?

 

Ein Übergewicht der Zeugnisnoten wurde im Verlaufe der Entwicklung der Schule prägend, so dass heute, für Schüler, Eltern und Lehrer eine Schule ohne Zeugnis kaum vorstellbar ist. Umso mehr, als Zeugnisse als Berechtigungsnachweise für das Berufsleben (zumindest um die Zulassung zu einem Auswahlverfahren zu erhalten) dienen: "Zensuren und Zeugnisse wurden zunehmend Leistungs- und Berechtigungsnachweise, die vom staatlichen und wirtschaftlichen Interesse viel stärker als von pädagogischen Notwendigkeiten geprägt waren. (Ingenkamp a.a.O. S.12f)

Der Ausweg, sich sozusagen "einfühlend" der komplexen Situation zu nähern, ist nach Ingenkamp gescheitert. Dies wurde datenbasiert durch Untersuchungen belegt: Das (geisteswissenschaftliche) Verstehen einer Schülerleistung ist noch stärker subjektiv verzerrt, denn die herkömmlichen Muster der Schülerbewertung." ... Lehrerurteile (sagen) häufig mehr über den Lehrer als über den Schüler (aus)," (a.a.O. S.16.)

Wenn Zensuren einen Sinn haben sollen, können als diagnostische Ziele genannt werden:

  1. Vergleich
  2. Analyse
  3. Prognose

ad. 1: Vergleich

Bezugspunkte eines Vergleiches können das eigene Verhalten zu verschiedenen Zeitpunkten, die Leistung anderer Schüler oder die zu gesetzten Normen sein. Bei Vergleichen lassen sich verschiedene Funktionen abgrenzen:

  • Der Lernende vergleicht sich mit den Bezugsnormen (s.oben) und erhält dann Informationen, wo er steht. Entscheidungen können von seiner Seite aus initiiert werden.
  • Der Lehrende erhält Informationen.
  • Die Erziehungsberechtigten schätzen ihre Erwartungen im Vergleich realistischer ein.
  • Außerschulische Gruppen (Wirtschaft) erhalten Hilfen zur Auswahl .
  • Der Staat erteilt Qualifikationen und damit Berechtigungen.

ad 2: Analyse

In einer Analyse geht es um das "Warum"? Zensuren sollen in dieser Funktion Ursachen beschreiben.

  • Der Lernende erkennt seine Stärken und Schwächen.
  • Der Lehrende entwickelt Förderprogramme, differenziert.
  • Die Erziehungsberechtigten erhalten Informationen über das "Warum" um dann eventuell auf das Verhalten ihres Kindes einzuwirken.
  • "Die außerschulischen Interessengruppen, vor allem die Wirtschaft, konzentriert ihr Interesse an analysierenden Informationen noch vorwiegend auf den kognitiven Bereich, um unter ökonomischen Gesichtspunkten den zweckmäßigsten Einsatz vornehmen zu können". (Ingenkamp S. 18)
  • Der Staat sucht nach Möglichkeiten, um das Bildungswesen effektiver zu gestalten.

ad 3: Prognose

Ingenkamp zeigt, dass langfristige Prognosen abzulehnen sind, dass aber kurzfristige Prognosen ihren Sinn haben:

  • Der Lernende kann seine Lernaktivitäten, seine Entscheidungen steuern.
  • Der Lehrende prognostiziert um Beratungen, Hilfen, Schullaufbahnentscheidungen vorzubereiten.
  • Die Erziehungsberechtigten brauchen die Informationen als Entscheidungshilfen für z.B. die Berufswahl.
  • Außerschulische Interessengruppen sind an der ökonomischen Verwertbarkeit interessiert.
  • "Der Staat schließlich war an Prognosen für Individuen vorwiegend im Rahmen der Bedarfsplanung interessiert, um den Aufwand für die Förderung des angemessenen Nachwuchses beurteilen zu können." (Ingenkamp S.19)

HinweisZum Überprüfen:

Wenn Sie den neuen Bildungsplan betrachten, können Standards als Versuch einer Objektivierung gesehen werden.

Sicher sind aber Vergleichs- und Diagnosearbeiten, sowie die Niveaukonkretisierungen in dieser Art zu betrachten.

Da Noten auch zur Disziplinierung missbraucht wurden, schlägt Ingenkamp vor, dass neben der "Herrschaft der Lehrer in der Notengebung" objektivierende Verfahren d.h. Tests mit gebundener Auswertung und Verfahren der Schülerselbsbewertung treten.

Fazit:

"Die fast völlige "Alleinherrschaft" der Zensuren hat nicht nur für die Lernenden höchst fragwürdige Konsequenzen, sie verhindert auch wissenschaftlich geplante und überprüfte Reformen in unserem Bildungswesen."

Ingenkamp S. 33

 

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2. Eine Diskussion

In der Frankfurter Rundschau vom 12.03.2003 werden die bei Ingenkamp bereits zu findenden polaren Stellungen neu formuliert.

Hans Brügelmann , Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Siegen kritisiert die gängige Praxis der Notengebung in dem Artikel: "Misserfolg hat jeder zweite - Warum die Erwartungen an Schulnoten illusorisch sind". Dabei werden folgende Argumentationslinien sichtbar:

Aus dem Anspruch, dass gesellschaftliche Positionen nach Leistung und nicht etwa nach Abstammung, Stand oder Wohlstand gegeben werden, wurde die Ziffernnote eingeführt. Ist, so Brügelmann, dieser emanzipatorische Anspruch heute noch gerechtfertigt?

Im Einzelnen werden folgende Funktionen der Ziffernnote hervorgehoben:

  • "Noten sollen den SchülerInnen verdeutlichen, was sie können und wo sie noch Schwächen haben." - Da eine Ziffer pauschalisiert (Mittelwertbildung), lassen sich aus ihr keine individuellen Profile ablesen. "Zudem kann dieselbe Note für die nachlässige Leistung eines starken wie für die optimale Leistung eines schwachen Schülers stehen. Weder das Ergebnis noch die Ursachen einer Leistung werden also differenziert erfasst."
  • "Noten sollen zum Lernen anspornen" - Hier benutzt Brügelmann die Normalverteilung als Argument: " ,... es muss (bei Verwendung der Normalverteilung) immer 50% Verlierer geben. Selbst wenn alle sich anstrengen, selbst wenn alle erfolgreich lernen, muss das Notenspektrum ausgeschöpft werden. Solange die Normalverteilung in der Bezugsgruppe Maßstab der Beurteilung ist, kann die zunehmende Annäherung der Leistung an die Norm nicht ausgewiesen werden. Erst recht werden individuelle Anstrengungen und ihr Ertrag nicht anerkannt ...." Daraus wird gefolgert, dass Leistungswille untergraben wird, weil für einen bestimmten Personenkreis Misserfolg unvermeidlich wird.
  • "Noten sollen SchülerInnen als Ausweis dienen, der sie in Vergleich zu anderen setzt und AbnehmerInnen eine objektive Auswahl >>nach Leistung << ermöglicht" - Die Praxis zeigt seit den 60iger Jahren, dass selbst Mathematikarbeiten unterschiedlich bewertet werden. Korrigiert die gleiche Lehrkraft eine (anonymisierte) Arbeit zum zweiten Male, können durchaus die Noten voneinander abweichen. Der Beliebtheitsgrad der /s Schülers/in / die Erwartungshaltung der Lehrkraft fließen in die Bewertung mit ein (Pygmalioneffekt). "Standardisierte Tests können zwar einige dieser Fehlerquellen beseitigen - zumindest für die standardisierbaren Leistungen. Aber auch dann kann die Auswahl der Tests zu erheblichen Differenzen führen. ...."
  • "Noten sollen späteren Ausbildungs- und Berufserfolg vorhersagen" - In Längsschnittuntersuchungen wird deutlich, dass Schul- und Ausbildungsnoten eine geringe Vorhersagekraft besitzen. Dass die Abnehmer Schulnoten nicht mehr vertrauen - sie benutzen sie häufig nur noch als Auswahlkriterium zur Zulassung zum eigenen Assessment-Center - zeigt die Praxis der Berufseingangstests.

Da verbale Beurteilungen, so Brügelmann, den Leistungsstand sehr viel differenzierter wiedergeben und die Subjektivität des Verfahrens zudem verdeutlichen, sind sie weitaus besser geeignet. " Zudem sollten verschieden Beurteiler zu Wort kommen - auch die beurteilte Person selbst. Das ist ein Zeichen von Fairness und fördert eine zentrale Fähigkeit: die realistische Selbsteinschätzung der eigenen Leistung."

Ulrich Hermann, Professor und Leiter des Seminars für Pädagogik an der Universität Ulm, räumt in seiner Replik: Zensuren bewerten Schulen - Warum Noten zur Leistungskontrolle nützlich sind - zwar ein, dass Noten "Schätzwerte auf vorwissenschaftlichem Niveau" sind und die Hintergründe der Leistungserbringung außer acht lassen, doch sieht er in den Noten ein pragmatisches Verfahren:

  • Noten werden nicht nur von Schülern erwartet - "Laut einer Hamburger Untersuchung wird die Aussage "Ich bin für eine Schule ohne Zensuren" von 47% der Lehrer, 60% der Eltern und 66% der Schüler abgelehnt."
  • Noten erfüllen in diesem, Sinne eine Rückmeldefunktion über den Leistungsstand und den Leistungsrang innerhalb einer Klasse. Die Schüler bekommen signalisiert, wo sie stehen, ob sie handeln können oder müssen.
  • "Zensuren sind eine Informationsquelle für die Schulleitung und die Schulaufsicht - "... Die Schulleitung erfährt auf diese Weise etwas über die Standards von Lehrern und Leistungsniveaus von Klassen. Durch das Vier - Augen - Prinzip der kollegiumsinternen Gegenkontrolle wird Qualitätsermittlung und -sicherung betrieben - wohl gemerkt die Qualität der Lehrer."
  • Fazit:
    "Mithin: ein klares Ja zu Zensuren im Sinne von Leistungsbewertung und - kontrolle. Wenn sie für die Schüler zur Positionsbestimmung dienen, um sie zu orientieren, zu stabilisieren, zu motivieren und um ihnen zu einer realistischen Selbsteinschätzung zu verhelfen.
    Wenn sie für die Lehrer eine Rückmeldung sind, um ihnen die Erfahrung des Berwerters zu vermitteln und um ihre normative Selbstverständlichkeit zu relativieren.
    Wenn sie für die Schule im Ganzen (bzw. für das Kollegium) als Vergleichsdaten genutzt werden, um ein realistisches Selbst(wert)gefühl des Verhältnisses von Ansprüchen und tatsächlich erbrachten/ ermöglichten Leistungen zu vermitteln."

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3. Neuere Befunde: Zensuren und Zeugnisse täuschen Eltern und Schüler

Pressemitteilung des Grundschulverbandes vom 12.06.06
Grundschulverband legt wissenschaftliche Expertise vor: „Sind Noten nützlich und nötig?“

Über 10 Millionen Zensuren werden in diesen Wochen allein in den Grundschulen auf den Jahreszeugnissen erteilt. Der Grundschulverband hat eine wissenschaftliche Expertise in Auftrag gegeben, die die zentralen Forschungsbefunde und internationalen Erfahrungen zu Ziffernoten und ihren Alternativen auswertete. Die Ergebnisse stellen der in Deutschland praktizierten Leistungsbeurteilung ein verheerendes Zeugnis aus:

  • Zensuren täuschen vor, den tatsächlichen Leistungsstand des Schülers zu spiegeln, objektiv und  vergleichbar zu sein. In der 4. Klasse sollen sie sogar eine Prognose auf zukünftige Leistungen geben, wenn sie über die Wahl der weiterführenden Schulen mit entscheiden. Nichts davon trifft zu. Gleiche Zensuren werden für unterschiedliche Leistungen erteilt, dieselbe Leistung wird in verschiedenen Klassen, von verschiedenen Lehrern unterschiedlich bewertet.
  • Der Aussagewert für zukünftiges Lernen ist gering.
  • Zensuren können äußerst ungünstige Auswirkungen auf die Leistungsentwicklung haben:
    Sie gehören zu den stärksten Auslösern von Schulangst und blockieren damit Lernfreude und Leistungszuversicht. Sie behindern oder zerstören die Motivation für die Auseinandersetzung mit Sachthemen und fachlichen
    Problemen, wenn nur noch für Noten gelernt wird und nicht aus Interesse für das Thema.
    Sie stempeln leistungsschwächere Schüler dauerhaft zu Versagern, die sich wenig zutrauen, und machen leistungsstarke Schüler selbstgenügsam, wenn sie gute Zensuren „mit links“ erhalten. „Fördern und fordern“ werden erschwert.
  • Die Behauptung, Zensuren seien notwendige Anreize für das Lernen, wird durch schulisch erfolgreichere Länder widerlegt. Hier werden Noten erst in höheren Klassen erteilt und die Schüler sind insgesamt erfolgreicher, so in Schweden, in Finnland, auch im deutschsprachigen Südtirol.
  • Arbeitgeber haben längst erkannt, dass Zensuren wenig über Motivation und Leistungsfähigkeit aussagen:
    Sie gewichten die Eindrücke aus Einstellungsgesprächen und aus eigenen Leistungstests erheblich stärker.

Die Expertise für den Grundschulverband macht darüber hinaus deutlich: Auch die bloße Abschaffung der Noten und ihr Ersatz durch Wortgutachten bringt noch keine Verbesserung. Zwei Bedingungen sind nötig, damit die Leistungsbewertung nicht im Widerspruch zur Leistungsförderung steht:

1. Der Unterricht muss auf Eigentätigkeit der Schüler und auf sachgebundene Motivierung setzen. Die Lehrkräfte müssen gemeinsam mit den Schülern Lernen und Lernwege planen, Lernentwicklungen reflektieren und Lernergebnisse würdigen.
2. Der Zusammenhang von Leistungsbewertung und Entscheidungen zur Selektion (Sitzenbleiben, Wahl der weiterführenden Schulen) muss entkoppelt werden. Eine Voraussetzung dazu ist, dass die Schüler über mehr als vier Schuljahre gemeinsam lernen können.

Mehrere Bundesländer haben sich auf die Fahnen geschrieben, das „modernste Schulwesen“ zu schaffen.
Mit Zensuren und Zensurenzeugnissen ist dies, wie die Auswertung des aktuellen Forschungsstandes zeigt, nicht zu haben.

Informationen zur wissenschaftlichen Expertise:
Die Expertise wurde von der Arbeitsgruppe Primarstufe an der Universität Siegen unter Leitung von Prof. Dr. Hans Brügelmann erstellt. Die ausführliche Fassung der Expertise mit allen Belegen ist für Medienvertreter kostenfrei über die
Geschäftsstelle des Grundschulverbandes erhältlich (sonst 18,00 €).

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Literatur

Grunder; H-U &. Bohl,T (Hrsg.; 2001): Neue Formen der Leistungsbeurteilung in den Sekundarstufen I und II. Schneider Verlag Hohengehren

Ingenkamp, K. (Hrsg.; 5. Auflage 1974): Die Fragwürdigkeit der Zensurengebung. Beltz Studienbuch

Easley, S-D. &. Mitchell, K. (2004): Arbeiten mit Portfolios - Schüler fördern, fordern und fair beurteilen. Verlag an der Ruhr.

Winter, F., von der Groeben, A. &. Lenzen, K-D. (Hrsg.; 2002): Leistung sehen, fördern, werten - Neue Wege für die Schule.

Winter, F. (2004): Leistungsbewertung - Eine neue Lernkultur braucht einen anderen Umgang mit den Schülerleistungen. Schneider Verlag Hohengehren

www.landeselternausschuss.de

 

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